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Videoverhandlungen in Zivilverfahren

Seit 2002 ermöglicht § 128a ZPO (Zivilprozessordnung) die Videoverhandlung vor Gericht. Lange Zeit hat kaum jemand diese Möglichkeit genutzt. Durch die Corona-Pandemie haben viele Richter und Anwälte die Vorschrift neu entdeckt. Wie muss man sich das vorstellen: die Anwälte in der Kanzlei, der Zeuge in Spanien, die Sachverständige in der Schweiz und der Richter im Remote-Office? Nicht ganz. Aber fast! – und noch viel wichtiger: Kann und soll die Videoverhandlung die mündliche Verhandlung im Gerichtssaal ersetzen?

 

Die mündliche Verhandlung im Zivilprozess

Zivilrichter verhandeln nicht jeden Tag. Ich habe beispielsweise einen festen Sitzungstag in der Woche, an dem ich mehrere Verhandlungen hintereinander leite. An den Tagen davor bereite ich die Sitzungen vor: Ich lese die Akten und löse den Fall. Dabei ziehe ich natürlich das Gesetz, Urteile anderer Gerichte und Veröffentlichungen zurate. Nach der Verhandlung schreibe ich Urteile oder – falls noch etwas aufzuklären ist – Beweisbeschlüsse. Doch unterm Strich dreht sich alles um die mündliche Verhandlung: Der Kläger und der Beklagte, Rechtsanwälte, gegebenenfalls Zeugen und Sachverständige, Dolmetscher, selten Pressevertreter und noch seltener Zuschauer – alle treffen sich im Gerichtssaal „face to face“.

 

Warum wird mündlich verhandelt?

Die mündliche Verhandlung kann man als das „Herzstück“ des Prozesses bezeichnen. Sie erfüllt viele wichtige Funktionen:

 

(1) Eine im Prozess unterlegene Partei wird ein Urteil eher akzeptieren, wenn sie vorher Gelegenheit hatte, mit dem Richter und dem Gegner über die Sache zu sprechen und zum eigenen Standpunkt gehört zu werden. Und eine höhere Akzeptanz des Richterspruchs schafft mit größerer Wahrscheinlichkeit Rechtsfrieden.

 

(2) Das Gericht versucht in jeder Lage des Verfahrens, eine „gütliche“, also versöhnliche Einigung zwischen den Parteien zu erreichen. So kann oft eine interessensgerechte, „faire“ Lösung gefunden werden. Wenn das gelingt, wird das Verfahren meist durch einen Vergleich beendet. Jeder gibt nach – beide Seiten können mit dem Kompromiss leben. Natürlich gibt es auch schriftliche Vergleiche. Aber viele Streitigkeiten lassen sich eben nur im persönlichen Dialog lösen.

 

(3) Das Gericht teilt in der mündlichen Verhandlung mit, wie es den Fall beurteilt. Dabei wird schnell deutlich, ob die Parteien ihr Anliegen „richtig“ transportiert haben und das Gericht alles „richtig“ verstanden hat. Es besteht Gelegenheit, Dinge klarzustellen, den eigenen Vortrag zu ergänzen und das Gericht von der eigenen Sicht zu überzeugen.

 

(4) Gerichtsverhandlungen finden im Regelfall öffentlich statt – jeder kann bei den Verhandlungen zuschauen und -hören. Da Gerichte Urteile im Namen des Volkes sprechen, soll das Volk auch die Gelegenheit haben, sich selbst ein Bild zu machen.

 

(5) Schließlich gilt insbesondere für die Beweisaufnahme der Grundsatz der Unmittelbarkeit. Die Richter sollen ihr Urteil auf der Grundlage des unmittelbaren Eindrucks von den Zeugen und Parteien fällen. Daher ist eine schriftliche Zeugenvernehmung nur in Ausnahmefällen möglich.

 

Und das lässt sich alles per Videoverhandlung erreichen?

Nein, nicht jede Verhandlung kann bzw. sollte zukünftig „einfach“ als Videoverhandlung ablaufen – „Es kommt drauf an.“

 

Die Möglichkeit zur Videoverhandlung regelt für den Zivilprozess § 128a ZPO. In Abs. 1 S. 1 und S. 2 ZPO heißt es: „Das Gericht kann den Parteien [und ihren Anwälten usw.] auf Antrag oder von Amts wegen gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Die Verhandlung wird zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen.“

 

Schon beim Lesen wird klar: Als Richter sitze ich auch bei der Videoverhandlung im Gerichtssaal und nicht im Remote-Office. Die Parteien und Anwälte können im Gerichtssaal erscheinen, sie müssen es aber nicht. Das, was sie per Videoschaltung erklären, ist wirksam, so als ob sie im Gerichtssaal anwesend wären. Die Parteien können also auch in diesen Fällen verhandeln, Dinge richtigstellen, ihre Argumente vorbringen und sich vergleichen – wie von Angesicht zu Angesicht. Auch eine Beweisaufnahme mit Zeugen und Sachverständigen ist möglich (die Einzelheiten regelt § 128 Abs. 2 ZPO).

 

Ist das (immer) sinnvoll?

Eine Videokonferenz ist nicht dasselbe wie eine mündliche Verhandlung im Sitzungssaal. Richter müssen deshalb bei der Entscheidung, ob sie den Beteiligten gestatten, sich an einem anderen Ort als dem Sitzungssaal aufzuhalten, die beschriebenen Funktionen der mündlichen Verhandlung stets im Blick behalten.

 

Es gibt viele Fälle, in denen die Zwecke der mündlichen Verhandlung genauso gut oder zumindest fast so gut im Rahmen einer Videoverhandlung erfüllt werden können: Gleichgelagerte Massenverfahren, Regulierungsstreitigkeiten, bei denen es um reine Rechts- und Fachprobleme geht, die Anhörung von Sachverständigen zu technischen Fragen, usw. In diesen Fällen kann ich meine Rechtsansicht bekannt geben und darüber mit den Parteien diskutieren. Sofern ein Vergleich in Betracht kommt, lassen sich die Parteien in solchen Verfahren ohnehin von rechtlichen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten leiten, die ebenso gut in einer Videokonferenz erörtert werden können. Interessierte Pressvertreter und Zuschauer können im Sitzungssaal über Fernseher oder Leinwände alle Verfahrensbeteiligten sehen und hören.

 

Es gibt aber auch das andere Extrem: Erbitterte Erbstreitigkeiten, bei denen die Parteien sich buchstäblich an einen Tisch setzen müssen, um zusammenzukommen. Die Entscheidung darüber, ob ein Kind in Zukunft bei einem Elternteil leben soll. Wenn es nur einen neutralen Zeugen gibt, der über den Ausgang des Verfahrens durch seine Aussage entscheidet, dann möchte ich persönlich diesen Zeugen in meinem Gerichtssaal unmittelbar vernehmen. Derartige Fälle eignen sich aus meiner Sicht nur ganz selten für eine Videoverhandlung.

 

„Erbitterte Erbstreitigkeiten, bei denen die Parteien sich buchstäblich an einen Tisch setzen müssen, um zusammenzukommen. Die Entscheidung darüber, ob ein Kind in Zukunft bei einem Elternteil leben soll.[…] Derartige Fälle eignen sich aus meiner Sicht nur ganz selten für eine Videoverhandlung.“

 

Und dann wird es schwieriger: Soll ein Zeuge aus Spanien anreisen, der vor oder nach der Vernehmung in Quarantäne muss und zudem ein Infektionsrisiko für sich und andere darstellt? Soll die Vernehmung auf nicht absehbare Zeit verschoben werden? Hier bietet die Videoverhandlung Vorteile, die den damit verbundenen Nachteilen gegenüberstehen. Ich habe den Eindruck, dass die Kollegen diese Fragen sehr sorgfältig und verantwortungsbewusst abwägen. Die Gesichtspunkte des Infektionsschutzes, der Effizienz und Verfahrensbeschleunigung, Innovation, Kosten, des Umweltschutzes usw. müssen stets mit den garantierten Rechten der Parteien und den Grundsätzen des Prozessrechts sinnvoll in Einklang gebracht werden. Wir sollten die Möglichkeiten von § 128a ZPO in geeigneten Fällen proaktiv nutzen und Erfahrungen sammeln, ohne die Funktionen der mündlichen Verhandlung und die Rechte der Beteiligten aus dem Blick zu verlieren.

 

 

CHRISTIAN SCHLICHT

ist Richter am Landgericht in Köln und hat dort als Erster eine Videoverhandlung nach § 128a ZPO durchgeführt.

 

Neben seiner Richtertätigkeit ist der Autor mit Verwaltungsaufgaben im IT-Dezernat befasst und Mitglied des Rollout-Teams zur Einführung der elektronischen Akte am Landgericht Köln.

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