Als ich letztes Jahr mit dem Referendariat anfing, die letzte Station vor dem zweiten Staatsexamen und damit endlich der Anfang vom Ende der langen juristischen Ausbildung, habe ich mir fest vorgenommen, diese Zeit bestmöglich zu nutzen.
Ich wollte in den Ausbildungsstationen im Zivilrecht, Strafrecht, Öffentlichen Recht (sog. Verwaltungsstation) und in der Anwaltskanzlei wirklich etwas mitnehmen.
Deswegen habe ich mich für die viermonatige Verwaltungsstation beim Jobcenter Frankfurt beworben. Ich wollte wissen, wie eine Behörde, die für so viele Menschen in Deutschland Dreh- und Angelpunkt ist, arbeitet und nebenbei auch einen Einblick in unser deutsches Sozialsystem erhalten, denn das spielt im Jurastudium leider so gar keine Rolle. Laut Statista gibt es aktuell rund 3,9 Millionen erwerbsfähige Personen in Deutschland, die Bürgergeld erhalten. Das ist nicht gerade wenig und ich finde, als Jurist sollte man wenigstens ein klein wenig Ahnung davon haben. Außerdem wollte ich die Chance nutzen und – wenn möglich – einige Vorurteile gegenüber Behörden abbauen.
Ich berichte euch nun von zwei einschneidenden Erlebnissen, die mich auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt und meine Hoffnung, Vorurteile abzubauen, leider zunichtegemacht haben.
Ich [wollte] die Chance nutzen und – wenn möglich – einige Vorurteile gegenüber Behörden abbauen.
Meine erste Akte und die große Frage nach dem Warum:
Wer mich kennt, weiß, dass ich mich immer ganz genau einarbeite. So brauche ich vielleicht gerade anfangs etwas länger, aber ich verstehe wenigstens, was Sache ist und was ich da eigentlich tue. Meine erste Akte bekam ich mit der Aufgabenstellung, einen Widerspruchsbescheid zu erlassen. Gesagt, getan. Ich lese mich also in den Fall ein.
Ein Bürgergeldempfänger, Bernd, soll nach Ansicht des Jobcenters weniger Geld bekommen. Ich lese weiter. Stunden vergehen. Ich überlege, ob ich zufällig über Nacht verblödet bin, das Referendariat wirklich das Richtige für mich ist und ob ich vielleicht doch hinschmeißen sollte. Was war geschehen? Ich fand einfach keinen Verwaltungsakt in der Akte, das heißt, kein Schreiben der Behörde, das Bernd eine Geldleistung kürzte und auch Bernd‘s Widerspruch vermisste ich! Wie soll ich bitte einen Widerspruch „bescheiden“, wenn aus meiner Sicht gar kein Widerspruch vorliegt? Das Einzige, was ich fand, war ein Schreiben vom Jobcenter, in welchem die Kürzung angekündigt und Bernd aufgefordert wurde, zu den Gründen Stellung zu nehmen. Diese behördlichen Infoschreiben (auch Anhörung genannt) schaffen keine rechtlichen Folgen wie es ein Verwaltungsakt tut, sondern sind wirklich nur als Info gedacht. Die passende Stellungnahme von Bernd befand sich ebenfalls in der Akte.
Irgendwann dachte ich mir, ach egal, ich ruf’ jetzt einfach bei meiner Ausbilderin im Jobcenter an und frag mal nach, ob ich in diesem Fall wirklich einen Widerspruchsbescheid schreiben soll. Ihre Antwort: Bernd – wohlgemerkt ein juristischer Laie – habe in seiner Stellungnahme an uns das Wort „Widerspruch“ benutzt und deshalb liege ihrer Meinung nach auch ein Widerspruch vor. Daraufhin erklärte ich, dass die Behörde doch noch gar keinen Verwaltungsakt erlassen hat, sondern nur dieses Infoschreiben vorliegt und aus diesem Grund gar kein Widerspruch möglich ist, auch wenn Bernd dieses Wort verwendet hat.
Auch hier stimmte sie mir zu, meinte jedoch im gleichen Atemzug, dass das Behördenpraxis sei und sie das in solchen Fällen schon immer so machen. Da war ich baff!
Ich fasse zusammen, was das für die Praxis bedeutet:
Die Behörden sind chronisch überlastet, zu wenig Personal, zu viel zu tun. Trotz alledem machen sie sich Mehrarbeit, in dem sie Widerspruchsbescheide erlassen, nur weil Menschen wie Bernd aus Nichtwissen Wörter wie Widerspruch in ihren Schreiben verwendet haben. Die Behörde schickt in Bernds Fall am Ende also zwei Widerspruchsbescheide raus!
Bleibt noch die Begründung der Behörde, warum sie sich mehr Arbeit als nötig macht: Weil es schon immer so gemacht wurde!
Denn natürlich wird nach der Anhörung der reguläre Leistungsbescheid erlassen, gegen den sich Bernd dann mit einem „richtigen“ Widerspruch wehren kann, sofern er mit der behördlichen Entscheidung nicht einverstanden ist. Bleibt noch die Begründung der Behörde, warum sie sich mehr Arbeit als nötig macht: Weil es schon immer so gemacht wurde! Here we go: Statt „einfach mal machen“ gilt hier wohl das Motto „einfach mal (so) lassen“!
Ich komme nun zu meinem zweiten Erlebnis, dem Gerichtstermin:
An einem Vormittag im Juli war ich für das Jobcenter Frankfurt am Landessozialgericht in Darmstadt. Links und rechts sitzen zwei Schöffenrichter, sprich juristische Laien, die den Sachverhalt unvoreingenommen und aus einer nicht juristischen Sicht bewerten sowie in der Mitte ein Berufsrichter, der durch die Gerichtsverhandlung führt. Ehrlich gesagt war ich voller Erwartung, denn ich dachte mir, dass ein Richter am Sozialgericht laienfreundliche Sprache bestimmt perfektioniert hat. Weit gefehlt!
Nehmen wir den Bürgergeld-Empfänger, der an diesem Vormittag auf Klägerseite vor Gericht auftauchte. Peter ist schätzungsweise um die 60 Jahre und fest davon überzeugt, dass das Jobcenter ihm zu wenig zahlt. Als Juristen wussten wir bereits, dass die Klage schon nicht form- und fristgerecht von ihm eingereicht worden war und wir somit gar nicht zur inhaltlichen Diskussion kommen würden.
Was ich nun erlebt habe, hat mich ernüchtert. Vorab erlaube ich mir den Hinweis, dass der Berufsrichter wirklich freundlich und geduldig war, aber…er hatte leider keine Ahnung von laiengerechter Sprache! Peter bekam während der ca. 45 Minuten Verhandlung nicht eine einzige Chance, zu verstehen, warum die Frage nach mehr Geld den Richter und auch alle anderen Beteiligten im Verhandlungssaal nicht interessierte.
Was ich mich die ganze Zeit gefragt habe: Warum erklärt der Richter Peter nicht einfach an einem simplen Beispiel, dass seine Klage einfach nicht rechtzeitig bei Gericht war (Frist) und warum es wichtig ist, die Frist einzuhalten?
Eigentlich stellt es keine besondere Hürde dar, eine alltagsnahe Erklärung zu finden: Die Angebotsheftchen von Aldi gelten ja auch immer nur für eine Woche.
Eigentlich stellt es keine besondere Hürde dar, eine alltagsnahe Erklärung zu finden: Die Angebotsheftchen von Aldi gelten ja auch immer nur für eine Woche. Die Angebote kann man somit nur innerhalb dieser Woche kaufen – logisch, ansonsten müsste Aldi für einen ewigen Zeitraum die Angebote stets für den genannten Preis anbieten. Dasselbe gilt bei Klagen. Diese kann man auch nur innerhalb eines gewissen Zeitraums erheben, sonst müsste man ja fürchten, jederzeit von irgendwem verklagt zu werden, auch wenn die Angelegenheit bereits Jahre her ist.
Hätte der Richter die Klagefrist so erklärt und begründet, dann wette ich, hätte Peter zustimmend genickt und nicht immer wieder damit angefangen.
Genauso Peters zweiter Stolperstein auf dem Weg zu mehr Geld: die Formvorschrift. Ehrlich, ich hätte einmal zählen sollen, wie oft der Richter während der Verhandlung die Wörter „qualifizierte elektronische Signatur“ verwendet hat. „Wenn Sie die Klage elektronisch einreichen, brauchen Sie eine qualifizierte elektronische Signatur!“ Ja, wow, der arme Peter! Er hat die Klage unterzeichnet auf elektronischem Weg ans Gericht geschickt, aber leider nicht mit qualifizierter Unterschrift. Ich darf euch verraten, dass ich ebenfalls keine Ahnung hatte, wie man als Privatperson qualifiziert elektronisch unterschreibt, damit dies vor Gericht anerkannt wird.
Mittlerweile weiß ich, dass dies beispielsweise über den digitalen Personalausweis möglich ist, wenn man diesen aktiviert und das passende Kartenlesegerät zu Hause hat.
Mein absolutes Highlight war nun, als der Richter schließlich anbot, Peter etwas zur materiell-rechtlichen Vorschrift bezüglich der Frist- und Formvorschriften ins Urteil zu schreiben, damit er dies zu Hause noch einmal in Ruhe nachlesen könne. Nett gemeint, aber spätestens bei dem Begriff „materiell-rechtliche Vorschrift“ hat Peter vermutlich abgeschaltet (falls er dies nicht davor bereits getan hatte).
Langsam begreife ich, dass es ein unbeschreibliches Unterfangen darstellt, die eingefahrenen Behördenmühlen zu einem Wind of Change zu bewegen […]
So und nun? Ich könnte diese Seiten noch mit weiteren anschaulichen Beispielen aus meinem momentanen Alltag füllen. Ich wollte das pralle Leben und habe es bekommen! Vorurteile abgebaut und Klischees Adé gesagt, habe ich wohl kaum – auch, wenn ich einige sehr fähige und sympathische Kollegen kennengelernt habe. Insgesamt bleibt es jedoch ernüchternd!
Wenn ich als Juristin Stunden brauche, um alle Behördenbriefe einer Akte zu verstehen und nachzuvollziehen, wie mag es dann erst den 3,9 Millionen Bürgergeldempfängern gehen? Den Sozialbehörden täte ein sprachliches Make Over wirklich gut. Doch hierzu wird es wohl nie kommen. Langsam begreife ich, dass es ein unbeschreibliches Unterfangen darstellt, die eingefahrenen Behördenmühlen zu einem Wind of Change zu bewegen – allein, weil man dann nicht mehr sagen könnte „das haben wir immer schon so gemacht“!