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Gewalt und Sorgerecht

Wenn die „heilige Kuh des Familienrechts“ als Steak serviert werden sollte.

 

„Ping“. Mein Handy meldet sich, während ich beim Friseur sitze und einen Latte Macchiato schlürfe. Eine Therapeutin, mit der ich öfter zusammenarbeite, sagt: „Hast Du noch Platz für einen Spezialfall?“.

 

Spezialfall.

 

Wie sieht das Leben nach häuslicher Gewalt aus?

Ich erzähle euch Sannes Geschichte. Sanne heißt im echten Leben nicht Sanne. Das ist aber auch völlig egal, denn Sannes Geschichte könnte mit wenigen Änderungen auch die Geschichte zig anderer Frauen sein.

 

„Ping“ macht mein Handy wieder. Die Unterlagen der Mandantin sind da. Sanne hat sich getrennt. Die Scheidung ist schon durch. Einvernehmlich. Die Mandantin hat auf alle Ansprüche verzichtet. Umgang ist geregelt. Die zwei Kinder leben bei ihr. Alles easy so weit. Oder?

 

Die nächsten Seiten enthalten Krankenhausberichte: Schlüsselbeinbruch, Jochbeinbruch, Brillenhämatom. Es gibt auch Polizeiberichte und Gewaltschutzanordnungen. Diese Berichte listen Hämatome auf – am Hals, am Oberarm, am inneren Oberschenkel, am Rippenbogen, sowie ein gebrochenes Handgelenk und eine gebrochene Nase.

 

Ich bin erleichtert. Was?? Ja, erleichtert. Denn es gibt Beweise. Der Fall dürfte ein Spaziergang werden. Normalerweise gibt es keine Beweise. Schon gar nicht derart eindeutige.

 

Sanne ist perfekt vorbereitet. Es gibt ein Stalking-Protokoll. Protokolle der Polizei. Sie mussten den Vater mehrfach wegschicken. Er stand vor ihrer Wohnung. Machte nichts. Stand einfach nur da und schaute. Mit dem Auto folgte er ihr zum Schwimmkurs der Kinder. Zur Schule. Zum Elternabend. Zum Arzt. Zur Arbeit.

 

Ordentlich sortiert folgen Auszüge aus Chatnachrichten und E-Mails. Beschimpfungen. Beleidigungen. Bedrohungen. Tränenreiche Nachrichten. Absagen von Umgängen. Noch mehr Absagen. Der Versuch, Dinge für das Kind zu klären. Jede sorgerechtliche Entscheidung, ein Kampf. Dutzende E-Mails, bitten und betteln. Schulanmeldung. Nicht die Auswahl der Schule, sondern nur die generelle Anmeldung, benötigt 27 E-Mails. Die Anmeldung zur Logopädie benötigt 42 E-Mails. Und betteln. Die Mutter muss den Mann, der sie erniedrigt und verprügelt hat, anbetteln, an der Erziehung der Kinder mitzuwirken. Man muss sich einmal klarmachen, was das für Gewaltbetroffene bedeutet.

 

Beratungen beim Jugendamt verlaufen ergebnislos. Die Mutter fragt vorsichtig, was mit alleinigem Sorgerecht ist. Die Sachbearbeiterinnen schütteln nur den Kopf. Es läge keine Kindeswohlgefahr vor, also gebe es auch kein alleiniges Sorgerecht.

 

„Es bedarf keiner Kindeswohlgefahr, um das Sorgerecht auf einen Elternteil zur alleinigen Ausübung zu übertragen! Es muss lediglich dem Wohl der Kinder dienen.“

 

 

Ist das gemeinsame Sorgerecht immer die beste Lösung?

Ich verdrehe die Augen, als ich das lese. Immer wieder lese ich den gleichen falschen Mist. Deshalb noch einmal fett gedruckt: Es bedarf keiner Kindeswohlgefahr, um das Sorgerecht auf einen Elternteil zur alleinigen Ausübung zu übertragen! Es muss lediglich dem Wohl der Kinder dienen.

 

Und es ist völlig okay, wenn dadurch das Leben des betreuenden Elternteils ein wenig einfacher wird. Dadurch kann man auch Ressourcen bei dem betreuenden Elternteil schaffen – gerade nach einem langen Leidensweg, der geprägt war von Gewalt und Missbrauch. Und diese frei gewordenen Ressourcen kommen den Kindern unmittelbar zugute.

 

„Das Sorgerecht ist unabhängig vom Umgangsrecht, das heißt, von der Zeit, die die Kinder mit dem anderen Elternteil […] verbringen.“

 

 

Das Sorgerecht ist unabhängig vom Umgangsrecht, das heißt, von der Zeit, die die Kinder mit dem anderen Elternteil – in diesem Fall dem Vater – verbringen. Beim Sorgerecht geht es darum, Entscheidungen zu treffen. Wird das Kind geimpft oder nicht, zu welcher Schule oder in welchen Kindergarten soll es gehen, findet eine Taufe statt, kann die Anmeldung zu Ergo-, Logo- oder Psychotherapie erfolgen?

 

Es ist auch sehr vorteilhaft, wenn die Kinder sofort an Logopädie und Ergotherapie teilnehmen können, ohne dass dafür ein weiteres Gerichtsverfahren notwendig ist. Ganz zu schweigen von den frei werdenden finanziellen Ressourcen, wenn nicht Gerichte und Anwälte bezahlt werden müssen, um diese fast alltäglichen Dinge durchzusetzen.

 

Warum bei derart offensichtlicher und dokumentierter Gewalt irgendwer noch auf die Idee kommen kann, dass es für irgendjemanden außer dem Täter gut ist, wenn die Eltern gezwungen werden, sich für sorgerechtliche Entscheidungen an einen Tisch zu setzen oder auch nur E-Mails auszutauschen und freundlich darüber zu diskutieren, ob die A-Schule oder die B-Schule das bessere pädagogische Konzept hat, wird mir wahrscheinlich auf ewig ein Rätsel bleiben.

 

Kann ein Umzug die Lösung sein?

Ich komme zum Abschnitt „aktuelles Problem/Ziel“ der Mandantin in den Unterlagen. Sanne möchte umziehen. Die Eigentumswohnung ihrer Mutter, 200 km entfernt vom jetzigen Wohnort, ist frei geworden. Sie liegt genau neben dem Haus ihrer Eltern. Ihre Eltern stellen ihr die Wohnung mietfrei zur Verfügung. Die Kinder kennen die Umgebung von Besuchen bei den Großeltern und haben Freunde im gleichen Alter, die nur eine Straße weiter wohnen. Ein Jobangebot hat sie dort auch. Flexible Arbeitszeiten, überdurchschnittliche Bezahlung. Der Umgang der Kinder mit dem Vater kann weiter fast unverändert stattfinden. Nur der Nachmittagsumgang entfällt. Es gibt eine durchgehende ICE-Verbindung.

 

„Ein Verfahrensbeistand wird vom Gericht ausgewählt und eingesetzt und fungiert als Vertreter der Kinder, die in der Verhandlung nicht dabei sind.“

 

 

Wie schwierig ist es, das Sorgerecht zu ändern?

Das Verfahren sollte einfach werden. Ein Antrag auf Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts und dank Beschleunigungsgebot sollte der Fall innerhalb der nächsten 8 Wochen gelöst sein. Soweit die Theorie. Aber es gibt ja einen Grund, warum es ein „Spezialfall“ ist.

 

Der Gewalthintergrund wird zum Problem. Die eingesetzte Verfahrensbeiständin soll die Interessen der Kinder im Verfahren vertreten. Ein Verfahrensbeistand wird vom Gericht ausgewählt und eingesetzt und fungiert als Vertreter der Kinder, die in der Verhandlung nicht dabei sind. Die Verfahrensbeiständin ist strikt gegen den Umzug. Sie sorgt sich darum, dass die Bindungen der Kinder zum Vater abreißen könnten. Die Mutter wolle aus ihrer Sicht nur wegziehen, um die Kinder dem Vater zu entfremden. Wenn es wirklich so schlimm und gewaltvoll gewesen wäre in der Ehe, warum haben die Eltern dann eine einvernehmliche Scheidung und die Regelung des Unterhalts, der Vermögensangelegenheiten und des Umgangs hinbekommen?

 

Das Verfahren zieht sich. Der Vater beantragt im laufenden Verfahren das Wechselmodell. Die Verfahrensbeiständin hält das für eine super Idee. Das Gericht leitet ein Umgangsverfahren von Amts wegen ein. Es folgt eine sechsstündige mündliche Verhandlung, in der verbal auf die Mutter eingeprügelt wird, damit sie ihre Umzugspläne aufgibt. Den Kindern zuliebe.

 

Die Verfahrensbeiständin beantragt ein Gutachten. Ich lehne für die Mutter ab. Wir benötigen eine Entscheidung. Es folgen weitere Schriftsätze. Telefonate mit der Verfahrensbeiständin, um das Problem zu verstehen. Nützt nichts. Beschleunigungsrüge. Und letztlich: 18 Monate nach Antragsstellung hält Sanne den Beschluss mit der Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts und der Schulsorge in den Händen, auch wenn das restliche Sorgerecht (natürlich) weiter gemeinsam ausgeübt wird.

 

 

„In manchen Fällen sollten auch heilige Kühe zu Steak verarbeitet werden. Den Kindern zuliebe.“

 

 

Warum ist das Verständnis von Gewaltstrukturen so wichtig?

Sanne ist kein Einzelfall. Fälle wie diese sind mein Arbeitsalltag. Natürlich ist es nicht immer die Verfahrensbeiständin, die das Problem ist! Im Gegenteil. Aber mindestens eine Person der professionell Beteiligten hat häufig Sorgen oder Einstellungen, wie in Sannes Fall die Verfahrensbeiständin. Und das sorgt für absurde Verfahren, immer dann, wenn die „heilige Kuh des Familienrechts“ – also das gemeinsame Sorgerecht, infrage gestellt wird. Ich kann nur an jeden, der mit diesen Fällen zu tun hat, appellieren, sich über Gewaltstrukturen, psychische Gewalt, Zwangskontrolle und ihre Folgen zu informieren. In manchen Fällen sollten auch heilige Kühe zu Steak verarbeitet werden. Den Kindern zuliebe.

 

 

 

KAROLA  ROSENBERG

 

ist Fachanwältin für Familienrecht und Gründerin der Kanzlei „Trennung mit Kind“, die auf die bundesweite Beratung und Vertretung in hochstreitigen Familienkonflikten spezialisiert ist.

 

Auf Instagram, TikTok und Facebook klärt sie über juristische und taktische Probleme bei Trennung und Scheidung auf.

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