10:55 Uhr – gleich kommt der Mörder. Noch einmal durchlüften. Gläser und Wasser stehen auf dem Besprechungstisch bereit. Alles ist für das Erstgespräch vorbereitet. Es klingelt an der Tür, ich erwarte den Mörder und herein kommt: ein Mensch. Doch von vorne…
Ich habe Sozialarbeit studiert. Dass ich später mal als Bewährungshelfer arbeite, Mord, Diebstahl und Betrug zu meinem Alltag gehören und ich Menschen dabei unterstütze keine weiteren Straftaten zu begehen, war nicht geplant. Als sich dann aber vor etwa drei Jahren die Möglichkeit ergab, nun ja, da war ich sofort Feuer und Flamme!
Herr N.
Der „Mörder“, der mich da also an einem Mittwoch um 11 Uhr in meinem Büro besuchte – nennen wir ihn Herr N. – ist ein normalgroßer Mann im Alter von 58 Jahren. Man sieht ihm nicht an, was er getan hat und das ist auch schon der wichtigste Punkt meiner Arbeit: Egal wer zu mir kommt, sie kommen alle als Menschen und ich werde sie auch als solche behandeln.
Aus dem Urteil von Herrn N., das ich vom Gericht erhalten habe, weiß ich, dass er einen anderen Menschen getötet hat. Im Urteil steht auch, dass Herr N. und das Opfer zuvor viele Jahre in einer Beziehung lebten. Nachdem seine Partnerin einen anderen Mann kennenlernte und sich trennen wollte, tötete er sie. Die Verletzung einer Trennung konnte Herr N. nicht verkraften und akzeptieren. Er wurde zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Nach 15 Jahren Haft, entsprechend positiver Prognosen durch die Haftanstalt und mehrerer psychologischer Gutachten wurde Herr N. entlassen und für 5 Jahre der Bewährungshilfe unterstellt.
Nach einer lebenslangen Freiheitsstrafe wird man immer eine:r Bewährungshelfer:in unterstellt. Bei anderen Straftaten und kürzeren Haftzeiten kann das auch anders sein. Es werden also nur solche Personen der Bewährungshilfe unterstellt, die nach der Meinung des Gerichts zusätzliche Hilfe brauchen, um straffrei zu bleiben.
In einem Erstgespräch, wie mit Herrn N., lerne ich die Proband:innen (so nennt man unsere „Kund:innen“) erstmal kennen und diese lernen auch mich kennen. Wir besprechen die bevorstehende Zusammenarbeit. In den einzelnen Fällen geht es dann auch darum, zu besprechen, welche gerichtlichen Auflagen und Weisungen bestehen und wie diese zu erfüllen sind. Bei einem Gewaltdelikt müssen Proband:innen oft ein Anti-Aggressions-Training absolvieren. Ich vermittle sie dann in eine Gruppe, in der sie sich mit dem Thema Gewalt auseinandersetzen müssen. Ähnlich verhält es sich bei einer Therapieweisung. Wenn das Gericht glaubt, dass eine therapeutische Behandlung dazu führt, dass der/die Proband:in keine weiteren Straftaten begeht, suche ich mit ihm/ihr zusammen eine passende Einrichtung und helfe die Behandlung auch durchzuziehen.
Das oberste Ziel der Bewährungshilfe ist also, den Proband:innen dabei zu helfen, ein straffreies und eigenverantwortliches Leben zu führen und sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren.
„Das oberste Ziel der Bewährungshilfe ist, den Proband:innen dabei zu helfen ein straffreies und eigenverantwortliches Leben zu führen und sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren.“
Frau A.
Natürlich habe ich nicht nur mit Mord und Totschlag zu tun. Frau A. ist mehrere Jahre schwarzgefahren, wurde einmal zu oft erwischt und deshalb zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Sie wurde mir für 3 Jahre unterstellt. Das Gericht hat auch entschieden, dass sie Arbeitsstunden ableisten muss. Als ich Frau A. kennenlernte, habe ich ihr also erstmal eine Einsatzstelle vermittelt und überprüfe regelmäßig, ob sie ihre Stunden auch ableistet – auch eine meiner Hauptaufgaben: die Kontrolle der Proband:innen.
Frau A. hat zudem viele Schulden. In unseren Gesprächen kam heraus, dass sie Angst vor Rechnungen und Mahnungen hat und deshalb lange Zeit ihren Briefkasten nicht mehr geleert hat. Diese „Angst vor dem Briefkasten“ haben die meisten meiner Proband:innen mit Geldproblemen. Dadurch, dass Frau A. sich mir gegenüber geöffnet hat und bereit war, ihre Finanzen endlich in den Griff zu bekommen, konnte ich ihr den Kontakt zur Schuldnerberatung vermitteln. Sie zahlt ihre Schulden nun nach einem festen monatlichen Ratenplan ab und macht auch ihre Post wieder auf! Um weiter an ihren Ängsten zu arbeiten, hat Frau A. neulich selbst den Wunsch geäußert, eine Psychotherapie zu beginnen. In diesem Vorhaben werde ich sie ebenfalls unterstützen.
Herr L.
Vor einem Jahr wurde er wegen Drogenbesitz zu einer Bewährungsstrafe verurteilt und mir für 3 Jahre unterstellt. Jetzt stand er wieder vor Gericht, weil er erneut mit Drogen erwischt wurde. Herr L. ist seit früher Kindheit und langjährig drogenabhängig. Leider musste ich mich bei Gericht für eine Haftstrafe aussprechen, weil ich Herrn L. keine gute Prognose stellen konnte. Er war fest im Drogenmilieu verankert und hatte keine Motivation, eine Entgiftung oder Therapie zu machen. Eine erneute Bewährungsstrafe hätte sehr wahrscheinlich nicht zum straffreien Lebenswandel beitragen können.
Meine Arbeit als Bewährungshelfer bewegt sich somit im Spannungsfeld zwischen Kontrolle und Unterstützung. Einerseits soll eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung zwischen Proband:in und Bewährungshelfer:in aufgebaut werden. Andererseits kann Bewährungshilfe aber auch bedeuten, sich für den Widerruf der Bewährung und somit den Haftantritt auszusprechen, wenn der/die Proband:in die Auflagen und Weisungen nicht erfüllt oder sogar erneut straffällig wird.
„[Sie] hören oft genug, was sie nicht können und welche Fehler sie gemacht haben. Ich arbeite mit ihnen daran, dass sie ihre eigenen Stärken erkennen und ausbauen.“
Und Ich
Die Herausforderung in meiner Arbeit sehe ich darin, die Proband:innen und ihr Umfeld (Familie etc.) zu betrachten, um herauszufinden, welche Stolpersteine in der Vergangenheit die Straftat begünstigt hat. Zudem hören Proband:innen oft genug, was sie nicht können und welche Fehler sie gemacht haben. Ich arbeite mit ihnen daran, dass sie ihre eigenen Stärken erkennen und ausbauen. Deshalb begegne ich ihnen auch mit Wertschätzung und Respekt und zeige ihnen, dass sie selbst Verantwortung für sich übernehmen müssen. Ich verurteile sie nicht – das ist Aufgabe des/der Richter:in!
Wenn ich mich vor dem Erstkontakt also mit dem Urteil und der Tat befasse, versuche ich Menschen, wie Herr N., Frau A. oder Herr L. nicht vorab schon in eine Schublade zu stecken und sie damit auf einen kleinen Ausschnitt ihres Lebens zu reduzieren. Es macht einen Unterschied, ob ich jemanden starr als Straftäter:in sehe oder als Menschen, der eine Straftat begangen hat, sich aber auch ändern kann. Ich bevorzuge die Vorstellung, dass Menschen sich ändern können. Darin möchte ich sie unterstützen – deshalb bin ich Bewährungshelfer!
„Ich verurteile sie nicht – das ist die Aufgabe des/der Richter:in.“
SILVANO FIANNACA
ist Diplom-Sozialarbeiter und Systemischer Berater (DGSF). Er ist als Bewährungshelfer am Landgericht Frankfurt am Main in der Allgemeinen Bewährungshilfe tätig. In seiner Arbeit sind ihm eine wertschätzende Haltung gegenüber der Klientel, sowie Ressourcenarbeit und die Einbeziehung der Herkunftssysteme wichtig.